„Magst du mal bitte einen Gastbeitrag bei mir schreiben?“ – ich schaue in mein Postfach und schaue noch mal hin und noch mal. „Ja, das hat er wirklich geschrieben!“, denke ich und werde ganz kicherig.
„JA, total gern!“, antworte ich und denke ich gleichen Moment „Ach du Schande, über was soll ich denn bloß schreiben? Hier auf diesem Blog, der so viel gibt, so viel zeigt, so anders ist als ich es bin?“ Die Frage gestellt – „Keine Ahnung… Wie wäre es mit: Familie… Anders sein? Als „normale“ Eltern… Fällt dir da was ein?“
NEIN, ist die ehrliche Antwort in meinem Kopf. Im ersten Moment auf gar keinen Fall. Gähnende Leere in meiner mentalen Ideenkiste. „Ich überlege mal was passen könnte!“ antworte ich und habe die schleichende Vermutung, dass da nicht viel nach kommen wird. Aber egal, ich schiebe das erst mal für einen Tag beiseite und dann schaue ich weiter. Bisher ist mir noch immer was eingefallen und es war ja nur ein Vorschlag! „Normal?“, was ist schon eine normale Familie?
Was ist überhaupt normal?
Ohne es zu wollen, lässt mich die Frage nicht los und als ich mich am Tag danach in die Stadt aufmache, hält sie mich noch immer bei der Hand – zur Verstärkung hat sie mein Weltbild mitgebracht. Sie schauen sich mit mir um, deuten auf Menschen und versuchen, sich zu erklären. Normal…
Ich versuche inne zu halten um ihnen besser zuhören zu können. „Der da, der Mann, der ist normal!“. Aschblonde Haare, Jeans, ein Pullover. Von H&M vielleicht, modisch aber nicht aufdringlich, vielleicht sogar ein bisschen langweilig. Den Blick in sein Smartphone vertieft, bahnt er sich einen Weg durch die Menge, ohne dass jemand sich auch nur nach ihm umschaut. Ja, vermutlich ist dieser junge Mann nah dran, an der Definition von „normal!“ – „Der Norm/den Regeln entsprechend, nicht aus dem Rahmen fallend“, findet sich diese im Duden. Während ich ihn davon eilen sehe, beschleicht mich das Gefühl, dass irgendetwas trotzdem unzureichend ist. „Nein“, widerspreche ich meinem Weltbild und es wirft mir daraufhin einen fragenden Blick zu.
„Na ja!“, wende ich ein, „Objektiv betrachtet entspricht er vielleicht einer Norm! Aber – schaut sie mal an“, sage ich und deute auf ein junges Mädchen, vielleicht 16. Sie trägt schwarze Netzstrumpfhosen, einen rot karierten Minirock. Der schwarze Pullover darüber ist an einigen Stellen eingerissen. Ob sie ihn so gekauft hat, oder nach ihren Vorstellungen umgestaltet, kann ich nicht sagen. Die Haare sind dunkel gefärbt in ihrem Blick liegt etwas Melancholisches, fast Leidendes. Sie ist groß, größer als viele andere Frauen um uns herum und hat die Schultern eingezogen, wie es viele Frauen tun, die andere überragen. „Sie ist nicht der Norm entsprechend, an die du vielleicht denkst! Aber ich wette, in ihrem Freundeskreis ist sie es – normal!“
Nun mischt sich die Frage ein „Aber für dich, für dich ist sie nicht normal oder? Würdest du so rumlaufen? Würdest du dir nicht verkleidet vorkommen?“ Ja, vermutlich würde ich das nicht, muss ich mir eingestehen und auch das mit dem Verkleiden kommt hin. Zufrieden bin ich trotzdem nicht. Bevor ich meine Zweifel kundtun kann, stöhnt mein Weltbild erschrocken auf.
“Ach du Sch…reck!” Eine Frau steht vorm Rossmann, um sie herum wuseln vier Kinder. Sie ist etwas zu pummelig. Zumindest für das Top mit billigen Strasssteinen und der Aufschrift “Live your dreams…!”, in das sie sich gezwängt hat. Die Finger mit grellbunt lackierten Acrylnägeln, fahren durch die gelb verfärbten, mit Wasserstoff gebleichten Haare, die stumpf und abgebrochen ihr Gesicht umrahmen. Sie keift ihre Kinder an, sie sollen jetzt gefälligst mal die Klappe halten. Im Mundwinkel klemmt zwischen den schlecht geschminkten Lippen eine Zigarette, ein hellgrünes Piercing blinkt als i-Tüpfelchen auf diesem fleischgewordenen Klischee.
“Das ist doch nicht normal oder?” die Frage ist entsetzt und fährt eine Spur überheblich fort “Bist du nicht froh, dass du nicht so bist? Deinem Weltbild wird ja vom hinschauen schon schwindelig!”
Prompt meldet sich dieses zu Wort „Schau da, das ist eine normale Familie!“ Ein Ehepaar kreuzt meinen Weg. Beide Mitte oder Ende dreißig. Sie hat ein Mädchen an der Hand, vielleicht fünf Jahre alt. Er schiebt einen Kinderwagen, in dem ein kleiner Junge sitzt. Ihn schätze ich auf zwei, vielleicht drei. Er hat einen Eintracht-Schnuller im Mund, das Mädchen hopst auf einem Bein und die zwei Zöpfe, die mit rosafarbenen Haargummis zusammengehalten werden, wippen hoch und runter. Die Eltern – nun ich kann weder sagen was sie wohl beruflich tun, noch ob sie wohl glücklich sind, sie wirken aber nicht übermäßig unglücklich oder gestresst. Sie sind vermutlich irgendwo angestellt, Einkommen oberer Durchschnitt, auf einem Ausflug in die Stadt. Nachher setzen sie sich vielleicht ins Auto, geschafft von all dem Lärm und den Menschen. Sie fahren nach Hause, die Lichter um sie herum verändern sich von grell und bunt, zum orange warmen Schein einzelner Straßenlaternen, wie es in einem Vorort üblich ist. Die Kinder schlafen auf dem Heimweg ein, zu Hause werden sie von ihren Eltern aus dem Auto und hinein in das Reihenendhaus in der Neubausiedlung getragen, in der sie wohnen. Als beide in ihren Betten liegen, schauen die Eltern vielleicht noch ein wenig fern, trinken ein Glas Wein oder ein Bier – „Und, wie war dein Tag?“… „Ganz okay und bei dir?“
„Das ist normal!“, sagt mein Weltbild. „Oder etwa nicht???“, nervt mich die Frage. Ich schaue mich um. „Ich… Keine Ahnung, ich weiß es nicht…!“
Ich sehe die Restaurants, in denen Menschen sitzen, lachen, essen, telefonieren, wild gestikulieren. Allein oder zu Mehreren. Kellner, wie sie die Leute bedienen. Mit einem Lächeln, oder auch nicht. Ich schaue auf den Platz vor der Hauptwache, auf dem sich die Jugend trifft. Aus ihren Handys dringt laut und mit übersteuertem Bass „Kollegah“. Ein paar ältere Menschen schauen zu ihnen hinüber und schütteln verärgert die silbergrauen Köpfe.
Zwei Männer in meinem Alter überqueren die Straße und einer von ihnen nickt mit dem Kopf zum herüberwummernden Beat.
Ein Pärchen sitzt knutschend auf der Mauer zur U-Bahn, sie sehen sich an und die Welt um sie herum scheint für sie nicht zu existieren. Es sind beides Frauen. Eine teuer gekleidete Dame mittleren Alters geht an ihnen vorbei und lächelt, als sie sie sieht. Andere Passanten starren die beiden an, wie von einem anderen Stern.
Mein Blick wandert weiter und streift eine junge Frau in einem cremefarbenen Mantel und Jeans, an den Füßen trägt sie Turnschuhe. Sie ist unscheinbar aber auf den zweiten Blick ist ihr Gesicht ein wenig zu stark geschminkt, die Frisur zu glatt und da sehe ich die Spitze eines Ballettschuhes, der unter ihrem offenen Mantel hervor blitzt. Sie überquert die Straße und schlägt den Weg Richtung Oper ein.
Ich schaue an den glatten, spiegelnden Fassaden der Frankfurter Skyline empor, hinter denen Angestellte und Vorstände, Teamleiter und Praktikanten sitzen und ihren Alltag bestreiten.
Sie sitzen dort oben und blicken auf die Stadt, in der sich tausende Menschen bewegen, durcheinander wimmeln, sich begegnen, sich zulächeln, sich anpöbeln, schubsen, sich helfen, verlieben, austauschen.
Menschen, die sich umarmen, sich streiten, einander an den Händen halten oder sich den Rücken zukehren. Langsam hektisch, geschäftig, bummelnd. Und über all dem?
Der grau blaue Himmel, an dem die Herbstsonne die feinen Wolken in ein blasses, weißes Licht hüllt. Wie üblich, schwebt ein Flugzeug über den Spitzen der Wolkenkratzer herein und komplettiert das Stadtbild, wie ich es kenne. Darin? Menschen! Die Flugbegleiter und Piloten, die ihr Arbeitsalltag um die ganze Welt trägt. Die Passagiere, aus allen Winkeln der Erde. Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten, Atheisten. Auf Geschäftsreise, auf dem Weg in den Urlaub oder auf dem Weg nach Hause.
Es sind Models, Hausfrauen, Magnaten, Adelige, Studenten, Austauschschüler, Professoren, Schauspieler. Straight, gay, verheiratet, geschieden, single, schwarz, weiß, klein, groß, dick, dünn…
Ich atme durch, nehme sie alle wahr, kann sie alle sehen. Ich kann sie nicht alle verstehen, aber ich kann sie alle annehmen. Denn ich habe meine Antwort auf die Frage längst gefunden und kann mein Weltbild andere Blickwinkel einnehmen lassen.
„Nein!“ sage ich entschlossen „Nichts davon ist normal, alles davon ist normal! Es gibt keine Normen, es kann gar keine geben. Jeder findet sich irgendwie normal. Das Leben eines Künstlers, das Leben eines Anwaltes, das Leben eines Angestellten, das Leben eines Geschäftsführers, einer Putzkraft, eines Menschen mit Behinderung, eines Menschen der introvertiert ist oder das von einem, der viel von sich preisgibt, ja, sogar das Leben eines Hollywoodstars. Für jeden ist das eigene Leben normal. Für jeden sind die eigenen Ansichten die ganz individuelle Norm. Darum kann es keine allgemeingültige Norm geben. Sie existiert nicht, lebt schlichtweg nur in unseren Köpfen und das ganz unterschiedlich. Nicht einmal Menschen, die den gleichen Job, den gleichen Musikgeschmack und die gleiche Vision von der Zukunft haben, die sich in allem einig zu sein scheinen, teilen zu 100% die gleiche Norm! Es gibt sie nicht und sie ist gleichzeitig überall. Jeder von uns ist normal, keiner von uns ist normal. Wir sind einfach!”
Die Frage sieht mich an, sie zögert. Dann lächelt sie, neigt den Kopf und sagt „Ich glaube, ich werde hier nicht mehr gebraucht!“ Damit dreht sie sich um und verschwindet in der Menge. „Und wir? Was machen wir?“ fragt mich mein Weltbild. „Wir gehen weiter“, gebe ich ihm zur Antwort „Wir sehen uns um, wir wachsen, wir verändern uns oder auch nicht! Wir leben. Wir sind. Eben ganz normal – oder?“
Vielen Dank Verena, du begabte Schriftstellerin.
Schaut unbedingt mal auf ihrem Blog Meerimherzen vorbei 😉
Toll, wirklich ganz toll geschrieben.
Gerade dieses letzte Wochenende habe ich mir oft die Frage gestellt, ‚Was ist normal?‘ oder ‚Das ist doch nicht normal?!‘ und ich habe dieses Wochenende begriffen, dass es Verhaltensweisen gibt, die nicht normal sind. Ganz und gar nicht normal und das für niemanden.
Menschen jedoch sind normal und Normalität ist abhängig vom Blickwinkel. Das ist meine Meinung.
Danke für den tollen Beitrag!
Liebe Grüße,
Susanna
WOW – super geschrieben!!!!!
Danke für Deine tollen Tipps! Klar, irgendwie weiß man es aber manchmal verliert man sich einfach. Dann werde ich mir Deinen Text wieder ansehen und weiß wieder genau, wo ich hin möchte.