Zeit schenken. Den Menschen, die man liebt. Das war mein Plan. Meine Mama, die beste Mama, die immer für uns da war und immer für uns da ist, wurde im Sommer 75 Jahre alt. Also schenkte ich ihr Zeit. Mit mir. Und meiner Schwester. Wir drei für zwei Tage in Toulouse. Eine entzückende kleine Stadt, die ich kennen und lieben gelernt habe. Schnuckelige kleine Lädchen, ein romantischer Fluss, pittoreske Altstadt, Cafés mit selbstgemachten, vor Genuss und Kalorien triefenden Torten und Restaurants, wo man sprichwörtlich wie Gott in Frankreich speist. Wo keine grüne Eule an der Tür klebt. Wir drei einfach mal nur für uns. Ohne Männer, ohne Kinder. Wie früher, als wir selbst noch Kinder waren und meine alleinerziehende Mutter ohne ein Wort Englisch zu können mit uns kreuz und quer durch die Welt reiste. Als ich das fliegen lieben lernte und meine Schwester kotzte.
Eine Woche vor Toulouse sagte meine Schwester, dass wir nicht reisen können. Sie muss am Tag unserer geplanten Reise auch los. Ins Krankenhaus. Die Woche vergeht. Ich komme am Abend vor ihrem Termin aus Nagoya. Ein langer, anstrengender Flug. Aber 7 Stunden Zeitverschiebung machen keinen Unterschied, wenn man nachts vor Sorge wach liegt. Am nächsten Morgen um 5.00 Uhr sitze ich im Auto. Eine Stunde später auf einem unbequemen Sessel im Haupteingang des Krankenhauses. Eine Putzfrau quält sich müde durch ihre morgendlichen Aufgaben. Der nette junge Mann am Empfang sieht wach und freundlich aus. Ob von ausreichend Schlaf und oder ebenso viel Kaffee kann ich nicht erahnen.
Ich höre die Stimmen meiner Schwester und meiner Nichte, die vom Parkplatz kommen. Meine hübsche, kleine Nichte, die sich nicht sorgen müssen sollte. Die Kind sein dürfen sollte. Erwachsen werden im Schnelldurchgang. Keine Wahl. Sie kommen in Begleitung meines Schwagers zum Eingang herein. Meine Schwester sieht mich und ihr schießen die Tränen in die Augen. Mir auch. Soviel zum Thema tapfer sein. „Was machst Du hier?“ – „Wo sollte ich sonst sein?“.
Ja, wo zur Hölle sollte ich sein, wenn meine Schwester um ihr Leben kämpft? „Alles im Griff. Gute Chancen. Sie sind noch jung.“ Schnipp, schnapp, Chemo, Hormone, Bestrahlung. Schwuppdiwupp, Kartoffelsupp. So viele andere haben es auch geschafft. Unsere Nachbarin. Zwei liebe Arbeitskolleginnen sind fast durch. Das wird schon. Die Krankenschwester, die erst polternd wie ein Feldwebel daherkommt, ist auf einmal einfühlsam, liebevoll. Ich darf das Bett meiner Schwester zum OP schieben. Ich versuche es wirklich, wirklich, tapfer zu sein. Gott sei Dank bekommt Ihr Mädels die Kinder. Wir wären längst ausgestorben. Vor dem OP breche ich in Tränen aus. Wir sind keine Zwillinge, aber wir teilen so viel. Ich möchte sie nicht hergeben. Eine Welt ohne meine Schwester ist absolut indiskutabel.
Der Tag wird einer, den ich nie vergesse. Ich tappe planlos durch den Wald in der Nähe des Krankenhauses, weil ich es dort nicht aushalte. Auf einer vermoosten Bank schlafe ich vor Erschöpfung sogar ein. Am Nachmittag bekomme ich sie dann zurück. „Geschafft!“. Und doch nur der erste Schritt auf einem langen, beschwerlichen Weg. Beschwerlich. Dezent untertrieben. Du bist so tapfer, mein Schwesterlein. So schön, auch ohne Haare. So Du, auch ohne Augenbrauen und Wimpern. Das Jahr wird nicht leicht. Aber Du kämpfst und bist stark und diese unsere wundervolle anstrengende und einzigartige Familie hält zusammen. Alles wird gut. Alles wird gut.
Heute erzählt mir mein Mann im Auto von einer Frau, deren Mann keiner mehr sagt: „Alles wird gut.“. Der nicht mehr kämpfen darf, sondern nur noch aushalten. Und dann kommen Erinnerungen, wie ungebetene Gäste. Die junge Mutter, die den zweiten Geburtstag ihrer Tochter nicht mehr erlebt. Das Mädchen Anfang Zwanzig, die man nach Hause schickt, weil nix mehr geht. Eltern, die die Kinder ihrer Kinder erziehen müssen, weil sie ihre eigenen begraben müssen. Und Partner, die noch so viel gemeinsam machen wollten. Alles, was immer nur den anderen passiert halt. Ich frage mich, wie viele Brüder ihre Schwester nicht mehr zurückbekommen.
Und dann klingt es in meinem Kopf: „Nutze die Zeit. Lebe jeden Tag. Carpe Diem.“. Wie oft habe ich dies gesagt. Und wie oft noch werde ich es sagen. Und glauben. Aber heute sollt Ihr da draußen wissen, dass ich weine. Mit Euch. Oft genug. Der Tod ist einfach nur beschissen. Betrug. Abzocke. Kein Topf am Ende des Regenbogens. Und gerade jetzt. Die besinnlichen Tage. Kein Jingle Bells und kein Winterwonderland. Der Schmerz endet nie und die Zeit heilt nichts wirklich. Nicht wirklich. Es heilt nicht. Es vernarbt. An anderen Tagen würde ich so etwas sagen, wie: „Die Narben halten unsere Erinnerung wach.“. Dieser Blog spricht von Liebe und Hoffnung. Vertrauen und Geborgenheit. Und all das fühlen wir und leben wir. Ich wollte, ich könnte meine wundervolle Schwester mit Euch teilen. Ein bisschen von dem wieder gut machen, was Euch genommen wird oder genommen wurde. Stattdessen kann ich nur die Trauer teilen. Es tut mir so unendlich leid.
Der Tod ist echt. Und der Verlust. Und die Kälte. Und die Einsamkeit. Und die endlos langen Nächte. Und deshalb gehen diese Zeilen an Euch alle, die Ihr es laut sagen dürfen sollt. Herausschreien sollt: „Es ist grausam und beschissen!“
Es ist echt. Ihr seid echt. Eure Wunden sind echt. Ihr sollt wissen, dass wir es wissen.
Oh du meine Güte. Jetzt weine ich. Nicht das erste Mal heute, denn vor sechs Tagen müsste ich meine wunderbare, alleinerziehende Mama in den Tod begleiten. Verdammter Krebs.
Ich drücke deiner Schwester die Daumen und sende euch allen die Kraft, die meine Mama uns allen hier gelassen hat.
❤️ Bin gerade eh so sentimental, Krebs ist einfach nur scheiße!!
Danke für, wieder ins Licht rücken, der wichtigen Dinge im Leben
puhhhh so schöne geschrieben hast du es lieber Kevin, und du hast sowas von Recht ……
Danke für diese Zeilen
Du rührst mich immer wieder zu Tränen Du packst in jedem Beitrag der Wahrheit an dem Schopf, aber auf so liebevolle Art und Weise, die mich immer wieder enorm mitfühlen lässt. Du bist ein ganz wunderbarer Mensch, der auch Tränen und Wut zulässt. Bleibt bitte so wie ihr seit und macht weiter so ❤️ Ganz liebe Grüße Annika
Ich habe Gänsehaut. In meinem Kopf sind wieder die Bilder meiner Mutter und Cousine, die ihren Kampf gegen den Krebs verloren haben. Der Schmerz hört auch nach 13 und 10 Jahren nicht auf – ich gehe nur anders damit um. Ich spreche noch viel über sie, damit ihre Präsenz nicht verblasst!
Danke für diesen Beitrag, ich drücke euch!
Unheimlich toll geschrieben. Ich habe vor 10 Jahren meine geliebte Mama an den Krebs verloren. Du hast mit deinen Worten mein Herz getroffen.
Vielen Dank für diesen ehrlichen und unfühlsamen Beitrag. Ich könnte gerade heulen und muss mich arg zusammen reißen. Deine Schwester hat den besten Bruder den sie sich nur wünschen kann.
Alles Liebe für euch, ganz viel Kraft und Wärme.
Bitte bleibt es herrlich ehrlich, wie ihr seid.
Das ist so wunderschön geschrieben. Und es steckt soviel wahres drin. Sei dankbar für jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick, den man mit seinen Liebsten verbringen darf und nutze die Zeit. Denn der Tag wird kommen, an dem es zu spät ist.
Mein kleiner Bruder ist vor 2 Jahren gestorben. Es vergeht kein Tag, an dem ich ihn nicht vermisse. Er fehlt. Tag für Tag.
Zeit heilt keine Wunden. Man lernt nur mit dem Schmerz umzugehen.
Ich wünsche dir mit deiner Schwester und all deinen Lieben von Herzen ganz viel gemeinsame Zeit!!
Ein sehr berührender und echter Text. Hab ihn gestern gelesen und heute gleich nochmal…. Trifft mich irgendwie und besonders in der r stillen Zeit kommen viele Erinnerungen wieder hoch… Danke René.
Danke!