Ich- Das Pflegekind
Ein warmer Tag im Mai 1988. Irgendwas ist anders. Wo ist meine Mama? Okay vorher war sie auch nicht immer da aber jetzt ist es anders.
Ich war 2 ½ Jahre alt, als ich von jetzt auf gleich nicht mehr bei meiner Mama war. Ich war schon vorher oft bei dieser Familie, sie ist auch eigentlich wirklich Familie aber trotzdem fremd. Es waren meine Großeltern väterlicher Seite. Was dann alles kam konnte ich damals natürlich nicht begreifen, ich war zu klein. Im nach hinein habe ich erfahren, dass meine Mutter sagte entweder sie bleibt bei euch oder ihr seht sie nie wieder. Da war es beschlossen. Das Jugendamt schaltete sich damals sofort ein. Meine Großeltern wurden offiziell meine Pflegeeltern und ich war ein Pflegekind. Diese Bezeichnung begleitete mich von da an mal mehr und mal weniger. Das Sorgerecht blieb allerdings, für mich jetzt völlig absurd, bei meiner Mutter, das Aufenthaltsbestimmungsrecht beim Jugendamt. Die ersten Jahre bekam ich von all dem nicht viel mit verständlicher Weise, ich war noch klein. Aber ich begriff das irgendetwas anders war. Wo mein Vater war? Berechtigte Frage, ich lebte ja schließlich bei seinen Eltern. Aber ich sag euch, er hatte genug mit sich, dem Alkohol und den Frauen zu tun.
Der Kontakt mit meiner Mutter sollte aufrecht gehalten werden, zu meinem Wohl. Heute lache ich darüber. Er war sporadisch da. Sie hat sich gemeldet so wie sie lustig war oder stand einfach mal vor der Tür. Das sie mich damit immer wieder in ein Tal der Tränen riss war ihr egal. Eines Tages, da war ich fast 5 stand sie mit einem Baby vor der Tür. Mein Bruder. Wieso? Wieso macht sie ein neues Kind? Wieso darf ich nicht bei ihr sein aber mein Bruder. Halbe Stunde später war sie wieder weg. Und das nicht nur für einen Tag.
Ich wurde älter und es ging auf die Schulanmeldung für die Grundschule zu. Da gab es ein Erlebnis wo ich das erste Mal bewusst begriff was es heißt in meiner Situation zu sein. Da meine Mutter wie erwähnt das Sorgerecht behalten konnte musste sie natürlich mit. Als Kind freut man sich auf diesen Tag, wenn es zur Schule geht und man angemeldet wird. So freute auch ich mich auf diesen Tag. Vor allem wusste ich ja meine Mama kommt auch. Aber wer erschien nicht in der Schule? Meine Mutter. Ich konnte nicht regulär angemeldet werden. Das war ein Schlag für mich. Und auch für meine Großeltern. Die bis zu diesem Tag alles getan haben, damit ich eine tolle Kindheit hatte. Und die hatte ich wirklich, zumindest von außen betrachtet. Aber die Mama konnten auch Sie nicht ersetzen. Den Schmerz, den auch ein kleines Kind empfindet konnten auch sie nicht nachempfinden. Natürlich ging es für mich in die Schule, dank Jugendamt. Aber da ging das ganze weiter. Ich trug einen anderen Namen wie meine „Eltern“, ich musste immer wieder erklären das es nicht meine „Eltern“, sondern meine Großeltern/Pflegeeltern waren. Um dann erklären zu müssen wieso ich bei meinen Großeltern lebte. Das Namenproblem gehörte irgendwann der Vergangenheit an. Wir änderten meinen Namen. Die Probleme damit kamen dann später. Ich wusste nicht was für ein Aufsehen ein doofer Buchstabe in der Sozialversicherungsnummer auslösen kann.
Ich weiß noch meine Oma hat immer gesagt, schreib doch mal deiner Mama, schreib ihr was du machst und wie es dir geht. Und ich weiß bis heute wie ich sehnsüchtig auf Antwort gewartet habe. Wenn Antwort kam, dann wurden große Versprechungen gemacht. Und nie wurde etwas eingehalten. Und das auch von meinem Vater. Besuchskontakte wurden nicht eingehalten. Wie oft habe ich am Fenster gestanden und niemand kam… Nicht mal eine Absage… NICHTS!!! Zwischenzeitlich gab es sogar einen zweiten Bruder. Merkt niemand wie es mir damit geht? Merkt niemand wie kaputt es mich macht? Es gab noch so viele Situationen wo ich mich als Pflegekind so verloren gefühlt habe. Trotz der Liebe die mir entgegengebracht wurde. Natürlich war ich Enkel aber eben auch Pflegekind. Regelmäßige Hilfeplangespräche mit dem Jugendamt. Treffen mit anderen Pflegekindern in der Umgebung. Gespräche mit fremden Leuten.
Je älter ich wurde, umso mehr merkte ich was meine Großeltern da auf sich genommen hatten. Klar war ich Ihnen dankbar. Aber dieser Druck von außen machte mich zu keinem einfachen Kind. Ich hab es Ihnen nicht leicht gemacht. Aber ich liebte sie abgöttisch. Wichtig für mich war, dass ich gesehen habe auch sie stehen den Taten meiner Mutter hilflos gegenüber. Sie stehen auf meiner Seite. Das hat mich damals in gewisser Weise auf dem Boden gehalten. Und doch konnte ich nicht nachvollziehen, wieso ich mich immer wieder bei meiner Mutter melden sollte. Heute weiß ich, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Es lag nicht an mir. Danke Oma das du drauf bestanden hast.
Der Kontakt zu meiner Mutter war je älter ich wurde so gut wie gar nicht mehr vorhanden. Das hat mich schon sehr getroffen. Aber ich war in meinen Augen und in den Augen der anderen abgehärtet. Ein Trugschluss… Die Seele leidet.
Das ganze Ausmaß wurde mir erst bei einem der wichtigsten Momente in meinem Leben bewusst. Der Geburt meiner Tochter. In dem ganzen Hormonchaos nach der Geburt konnte ich mir gar nicht vorstellen wieso meine Mutter damals so gehandelt hat. Ich wurde in ein tiefes Loch gerissen. Die Frage nach dem Wieso wurde zu einer zentralen Frage in meinem Leben. Ich beschloss dem nachzugehen. Ich nahm Kontakt mit meiner Mutter auf. Wollte ihr, nachdem meine Oma schon verstorben war, voller Stolz mein kleines Wunder vorstellen, ihr die Chance geben Oma zu sein. Aber ich wurde eines Besseren belehrt. Es hagelte Vorwürfe seitens meiner Brüder. Und meine Mutter hatte sich nicht verändert. Sich melden war und ist nicht ihre Stärke. So dass ich für mich entschlossen habe dies zu beenden.
Meine Pflegeeltern haben mich zu dem gemacht was ich bin. Ich bin ihnen dankbar. Dankbar dafür, dass sie so waren, wie sie waren. Ich bin dankbar dafür, dass sie mir gezeigt haben wie Liebe einem Kind helfen kann. Wie wichtig die Liebe für ein Kind ist. Ohne diese Erkenntnis wäre es damals mir und meiner Tochter ähnlich ergangen wie meiner Mutter und mir. Ich habe irgendwann angefangen das alles aufzuarbeiten. Und man sagte mir, dass es nicht unüblich ist. Das oft der gleiche Weg einschlagen wird. Ich bin froh das ich aus dieser Spirale ausgebrochen bin. Und jetzt stark genug bin für mich und meine Tochter. Und heute wo meine Tochter 12 Jahre alt ist, meine Pflegeeltern beide verstorben, mein Vater dem Alkohol tödlich erlegen ist und meine Mutter nur noch auf dem Papier existiert wird mir bewusst was ich erlebt habe als Pflegekind ist nicht zu unterschätzen. Meine Begleitumstände waren nicht die schönsten die man sich vorstellen kann. Und doch bin ich eine liebende Mutter geworden mit ganz dicken Narben auf der Seele.
Jedem Pflegekind sei gesagt. Du bist nicht allein mit deinem Seelenwirrwarr. Mit der Zerrissenheit die dich innerlich plagt. Du bist wie Ich und Ich bin wie Du. Wir sind uns ähnlicher als du denkst. Ich verstehe dich. Aber ich sage dir. Wenn du es willst gehst du aus dieser Situation stärker raus als andere sich das vorstellen können.
In Gedenken an meine Pflegeeltern meine geliebten Großeltern….
Und für alle Pflegeeltern ein Blick in das Innere eines Pflegekindes und für jedes Pflegekind ein Hinweis darauf das sie nicht allein sind.
Wow, ich habe Gänsehaut!!!Vielen Dank für diesen offenen und sehr ehrlichen BlogBeitrag. Es gibt mir Kraft weiter zu machen in meinem Beruf und für Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien und Wohngruppen da zusein. Und gleichzeitig macht es mich so traurig, dass Kinder überhaupt so etwas erleben müssen und sie den Erwachsenen teilweise so ausgeliefert sind. Bleib weiter so stark❤️
Wow.
Dieser Beitrag hat mich sehr berührt und zeigt mir, wieviel Kinder tatsächlich mitbekommen. Und wie wichtig es ist sie von ganzem Herzen zu lieben und sie zu schützen.
Es ist unfassbar traurig, dass tagtäglich Kinder so etwas erleben und ertragen müssen.
Ein Hoch auf alle Pflegeeltern und ihre Liebe die sie geben! Danke!
Du bist eine wunderbare junge Frau !!!
Vielen Dank für den Einblick in dein Leben !!!! Also Gute für euch !! Glg.
Ich habe Tränen in den Augen! Du und deine Geschichte, ihr habt mich berührt!
Meine kleine Tochter hat eine Freundin (diese ist gerade 10 geworden). Ihr Bruder und sie leben bei ihren Großeltern als Pflegekinder. Die Großeltern könnten altersmäßig fast als Eltern durchgehen – sie sind sehr rüstig und auch sehr interessiert & liebevoll (so, wie ich es beurteilen kann) … aber es sind halt nicht de Eltern. Und die Freundin meiner Tochter wird auch ständig mit der Frage konfrontiert, warum sie denn bei ihrer Oma und ihrem Opa (väterlicherseits) wohnt?!
Liebe Grüße von Annika
Vielen Dank für deinen Kommentar ❤ Ich weiß genau wie es der Freundin deiner Tochter geht… Begegne ihr mit Offenheit und wenn sie erzählen möchte dann lass sie erzählen und höre zu das ist soo wichtig. Die Mama meiner besten Freundin damals war so wichtig für mich. Sie war die perfekte Person wo ich mein Herz als Kind ausschütten könnte…
Liebe Grüße Jessica